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Beitrag vom 05.10.2006
Ich bin die Andere
Jana Muschick
In einem Moment ist sie erotisch umwerfend- im nächsten das verschüchterte Töchterchen. Katja Riemann glänzt in der Hauptrolle und stellt alle anderen in den Schatten ihrer multiplen Persönlichkeit.
Abends im Hotel lernt er die Frau seiner tiefsten Sehnsüchte kennen: Ingenieur Robert Fabry (August Diehl) sieht Carlotta (Katja Riemann), leicht bekleidet in rotem Spitzenhemdchen mit wasserstoffblondem Haar, und nimmt sie prompt mit auf sein Zimmer. Nach einer wilden Sexnacht ist die Schöne auf und davon - zurück bleiben allein ihre Dessous und die 400 Euro, die Fabry bereit war, für die anziehende Unbekannte zu zahlen.
Noch völlig überrumpelt von der schlaflosen Nacht trifft er am nächsten Tag in einer Anwaltskanzlei eben jene Carlotta wieder- als Dr. Carolin Winter.
In Fabry ist ein Feuer entbrannt: er folgt Carlotta und verlässt für sie seine Verlobte.
Die ungreifbare Carlotta ist nicht nur eine Frau - in ihr schlummern mehrere Persönlichkeiten, die dann und wann zum Ausbruch kommen. Eine Facette ihres schizophrenen Daseins ist die Prostituierte, eine zweite die strenge Anwaltsfrau. Doch dann ist da noch das kleine hilflose Mädchen, das dem äußerst diktatorisch wirkendem Vater unterworfen ist. Fabry verliebt sich haltlos in Carlotta und in all ihre "psychischen Mitstreiterinnen". Er will diesen verführerischen Traum seiner unerfüllten Wünsche - sie alle und keine andere! Vater Winter (Armin Mueller - Stahl) versucht aber, Fabry einen Strich durch die Liebesrechnung zu ziehen: "Der erste Mann im Leben einer Frau ist immer der Vater, das hat die Natur so eingerichtet".
Die Familie der Angebeteten scheint ebenso zerrissen zu sein, wie es die Tochter eindrücklich darstellt. In den Tiefen des Winterschen Weinkellers schlummert buchstäblich ein Geheimnis, das die Familie vor vielen Jahren zerrüttet hat.
Regisseurin Margarethe von Trotta bietet in ihrem Melodrama die Verbindung aus Sexualität und Krankheitsbild. So wie sich Carolin/Carlotta Winter in ihren Charakteren wandelt, verändert sich die Kameraführung: mal ist Carolin ganz weit weg und die ZuschauerIn sieht nur ihr wehendes Kleid in der Ferne, mal ist die ganze Leinwand bedeckt mit ihrem von Badeschaum umspülten Gesicht - das ist auch der Moment, in dem sie sich verwandelt, die andere wird. Das Hin - und Weg - Zoomen ist auch der Versuch, das "psychische Switchen" der Protagonistin darzustellen. Ihre verschiedenen Charaktere sind Mittel der Kompensation eines Kindheitstraumas, das sie nie wirklich verarbeitet hat. Dem Vater zu gefallen, war immer ihr höchstes Ziel - als sie seinem Leben eine erschreckende Wende gab, musste auch sie sich Räume suchen, in denen sie sich vor dieser Tat verstecken kann - die Sexualität, die sie wahllos mit Männer auslebt, ist ein Raum, die Psychose zu vergessen und sich, fern ab von Vater und Elternhaus, fallen zu lassen. Nur dadurch werden die Vater-Tochter-Gefühle kompensiert.
"Ich bin die Andere" ist ein skurriles und irritierendes Drama um eine junge Frau und ihre schizophrenen "Schwestern". Katja Riemann spielt in diesem Film die Hauptrolle - dafür ist ihr keine Grenze zu krass. Sie wechselt umstandslos in die Rolle der anderen und wirkt sehr authentisch. Ohne Katja Riemann wäre der Film ein einziges Desaster - einfach durch ihre Schauspielerei gewinnt das Stück an Spannung.
August Diehl und Armin Mueller-Stahl sind bei weitem nicht so überzeugend wie die Frau an ihrer Seite. Die Vaterrolle des Herrn Winter ist anfangs erschreckend und dadurch interessant, wirkt aber schnell aufgesetzt und ermüdend. August Diehl scheint in der Rolle des Robert Fabry wie ein sexsüchtiger Teenager, der nichts anderes will als seine Angebetete zu...! Jedenfalls wirkt das Heiratsvorhaben überzogen und unauthentisch - von der Darstellung realistischer Wünsche kann hier nicht die Rede sein!
Der Stoff von seelischen Abgründen und gierigen Süchten ist für ein Melodram eigentlich wie geschaffen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Grimme-Preisträger Peter Märthesheimer verfilmte die international ausgezeichnete Regisseurin Margarethe von Trotta ("Rosenstraße") das Schauspiel mit deutschem Staraufgebot. Allerdings hat sie bei der Konzeption ihrer Figuren eines vergessen: nachdem Carlotta mit derart vielen Charakteren bestückt ist, bleiben die anderen Figuren eher blass und erstarren in ihren Rollen - sie wirken unausgereift und fade.
Trotzdem wurde "Ich bin die Andere" von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden mit dem Prädikat "BESONDERS WERTVOLL" ausgezeichnet
AVIVA-Tipp: "Ich bin die Andere" ist ein modernes Melodram, das die ZuschauerIn mit Fragen empfängt und ohne Antworten wieder entlässt. Es ist kein fernsehkonformes Kino, was ja nicht so schlimm wäre, wenn die SchauspielerInnen doch nur überzeugen könnten und die Handlung mehr fesseln würde. Der Versuch, Schizophrenie glaubhaft darzustellen, ist nur teilweise gelungen. Der einzige Grund, diesen Film anzuschauen, ist die Darstellung von Katja Riemann - der Rest ist des Sehens leider nicht wert.
Ich bin die Andere
Regie: Margarethe von Trotta
Hauptdarstellerin: Katja Riemann
Weitere Darsteller: August Diehl, Armin Mueller-Stahl
104 Minuten, 5. Oktober 2006
Deutschland 2006
FSK: ab 12 Jahren